Klöntal Eine Kuh schlägt aus, und die Flechtfrisur der Nichte will und will nicht sitzen. Familie Huser-Schnyder vor und auf dem grossen Alpabzug mit Vieh und Sennen.
Stolz schreitet Sämi (6) voraus. Seine gelben Lederhosen und das rote Brusttuch leuchten in der Herbstsonne, die Messingbeschläge auf dem schwarzen Hosenträger glänzen. Bei jedem Schritt klimpert die silberne «Uhrenkette», die auf der rech ten Seite an seinem Hosenbund festgemacht ist. Hinter ihm folgen die Geissen mit seiner Mutter Brigitte Huser (30) und seiner achtjährigen Cousine Mirja. Beide tragen die Glarner Werktagstracht mit blauem Rock, roter Schürze sowie weisser Bluse und weissem «Fichu», dem dreieckigen Tuch, um den Hals. Mit einem Haselzweiglein hält Mirja die Geissen davon ab, am Strassenrand nach Blättern zu schnappen. Dicht hinter ihnen folgen die Sennen mit den Kühen und am Schluss des Zugs Gatte Marco Huser (41) und Senn Nino Baumgartner (26) mit dem Packpferd und dem aufgebundenen Käsekessi. «Hoahoahoa!», rufen die Sennen. Sie tragen alle die Toggenburger Tracht. Und dies mitten im grossen Glarner Alpabzug mit mehreren Bauern, die am selben Morgen ins Tal «abefahren». Anders als in vielen anderen Kantonen, in denen die Sennen ihre Alpen bis zum Bettag räumen müssen, können sich die Glarner bis Ende September Zeit lassen. Hunderte Zuschauerinnen und Zuschauer säumen die Strasse. Klatschend empfangen sie die Bauern oder bummeln durch den Älplermarkt beim Hotel «Rhodannenberg», wo am Abend auch das grosse Älplerfest stattfinden wird. «Ihr seid die Schönsten! », rufen immer wieder Touristen der Familie Huser und ihren Gehilfen zu. Das geht den Männern in der Toggenburger Tracht runter wie Öl. In früheren Jahren hatten einige gespottet: «Habt Ihr Euch verlaufen ...?».
Ein grosser Tag
Mit ihrer Toggenburger Tracht sind die Husers natürlich Exoten auf dem Glarner Alpabzug. Die Bauern der Region fahren traditionell im schlichten weissen Hirtenhemd ab. Dafür bekommen die Kühe aufwendige Blumengestecke zwischen die Hörner. «Die Glarner schmücken die Kühe, die Toggenburger die Menschen», sagt Marco Huser. Ihm liegt die Tradition der St. Galler nahe, seine Eltern stammen von dort. Was bei allen Älplern gleich ist: Ein Alpabzug ist ein grosser, emotionaler Festtag. Bei Husers gingen die Vorbereitungen schon am Vortag los. Da fährt Bäuerin Brigitte mit Sämi und Mirja von Glarus Richtung Klöntal. Sie bleibt den Sommer über mit den Buben hauptsächlich auf dem Hof im Tal und geht tageweise und über die Ferien auf die Alp. Unterwegs ist mehr Verkehr als üblich, weil neben dem Alpsommer auch die Campingsaison zu Ende geht. Ein grosser Holztransporter verursacht zudem einen ärgerlichen Stau. Dabei haben Husers noch so viel zu tun! Endlich erreichen Brigitte und die Kinder die Materialbahn zur Alp Hinterschlatt. Brigitte lädt das Gepäck - die Trachten und den Zmorge für die Sennen, die sie morgen auf dem Alpabzug begleiten - auf die Bahn, nimmt ihren Holzstock und marschiert mit den Kindern eine halbe Stunde hinauf zum Unterstafel, dem Untersäss der Alp Hinterschlatt auf 1387 Metern über Meer.
Die Vorbereitungen geben zu tun
Marco und Nino waren bereits den ganzen Monat damit beschäftigt, die Alp winterfest zu machen. Sie haben die Zäune abgebrochen und angefangen, alles gründlich zu putzen. Im Gehege vor der Hütte wühlen die Schweine herum, im Käsekeller schmiert Nino die Laibe. Brigitte kümmert sich derweil im Haus um die Vorbereitungen. In der warmen Küche überdeckt sie mit einem schwarzen Filzstift die bunten Aufnäher auf Sä- mis Sneakers. «Ich habe nirgends unifarbene schwarze Kinderschuhe gefunden», erklärt sie lachend. Bunte Sneakers zur edlen Tracht, das geht natürlich nicht. Vater Marco macht sich mit Nino derweil auf die Suche nach den Geissen, die am nächsten Morgen mit ins Tal kommen werden. «Die sind glaubs ziemlich weit oben, es könnte länger dauern, bis wir wieder hier sind», vermutet er. Bäuerin Brigitte legt alles parat für den nächsten Tag, dann bereitet sie das Abendessen zu: Älplermagronen mit Apfelmus. Kurz darauf kommen die Männer mit den Geissen zurück. «Die waren zuoberst oben, da, wo noch die Sonne hinscheint», berichtet Marco. Nach dem Essen geht Brigitte mit den Kindern gleich ins Bett. Sie habe die Nacht zuvor kaum geschlafen, weil ihr jüngerer Bub, der achtmonatige Tobias, sie auf Trab hielt. «Ich bin so müde ... und auch etwas nervös wegen morgen.» Marco und Nino polieren noch die «Mösch» ihrer Hosenträger mit «Gugenputzmittel», bis sie glänzen. «Unser Sennenstolz», sagt Marco. «Am Abend vor dem Abzug fühlt man sich wie ein Kind vor Weihnachten.»
Die Welt ist weit weg
Er denkt zurück an den Alpsommer. Seit Anfang Juni sind sie mit 18 Kühen und 42 Rindern von verschiedenen Bauern hier oben. Sie haben während der lan
Wenn Ziebeli anhänglich wird, weisst du, es herbstet.
Marco Huser (41), Bauer
gen Arbeitstage, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang dauern, fast 2,5 Tonnen Käse hergestellt: Glarner Alpkäse, Raclette-, Rahm- und Bloderkäse, eine Toggenburger Spezialität. Von Krieg, Wahlen oder Politskandalen kriegen sie hier oben nicht viel mit. Ihre Handys haben nur in einer kleinen Ecke in der Küche Empfang. «Willst du mal was auf einer Newsseite downloaden, schläfst du ein, bevor du es dir ansehen könntest.»
Sie haben andere Sorgen und Diskussionspunkte: Wer mäht die steilen Hänge? Oder wer kocht als Nächstes? Regnet es genug - «und nicht zu viel, denn wenns irgendwo seicht, dann im Klöntal»? Und haben wir noch genug Strom? Diesen beziehen sie über eine Solaranlage und einen Generator. Während des ganzen Abends liegt Katze Ziebeli bei ihnen auf der Bank. «Wenn Ziebeli anhänglich wird, weisst du, es herbstet.» Um 22 Uhr legen sich Marco und Nino zu den andern ins Matratzenlager. In wenigen Stunden wird ihr Wecker klingeln.
Schon bald sind aus der Ferne Schellen zu hören, Bauer Föhn von der Nachbarsalp scheint sich bereits aufzumachen. Er wird mit seinen Tieren elf Stunden unterwegs sein! Als die Sonne aufgeht, steht Nino bereits pfeifend bei der Arbeit im Käsekeller. Zuvor hat er die Kühe von der Weide in den Stall geholt. Marco und Brigitte melken die Kühe und bürsten alle gründlich, damit das Vieh fein säuberlich gestriegelt und geputzt ist. Die Tiere sind etwas unruhig. Sie scheinen zu merken, dass heute ein besonderer Tag ist. Eine schlägt aus und trifft Brigitte am Bein. «Autsch, du blödes Vieh! », ruft Brigitte, und reibt sich das Bein.
Vor dem Stall nagt Katze Ziebeli derweil genüsslich an einer Maus und verschlingt das ganze Tierchen. Die Sonne beleuchtet bereits die Spitzen des Glärnisch-Massivs. Mirja huscht die Treppe vom Schlafraum hinunter, auch Sämi ist wach. Bis sie mit den Tieren losziehen werden, dürfen sie auf dem iPad einen Film anschauen, das verkürzt die Wartezeit. Mirja muss zuerst noch still sitzen, damit Brigitte ihr eine schöne Frisur flechten kann. Doch das klappt nicht wie geplant. Immer wieder fällt der Zopf auseinander. Am Schluss dreht Brigitte kurzerhand zwei einfache Zöpfe zu Schnecken. «Fertig!»
Nino hat unterdessen den Zmorge für die Sennen parat gemacht, die extra aus dem Toggenburg und dem Appenzellerland angereist sind. Die Geissen kommen meckernd aus dem Stall. Nur die Schweine schlafen noch eng aneinandergeschmiegt in ihrem Unterschlupf. Um sie nicht zu stressen, holen die Husers sie nach der Alpabfahrt separat ab.
Auch den Zuschauern gefällts
Der Alpabzug ist der feierliche Schluss. «Wir haben es wieder geschafft», sagt Marco Huser. Sie haben viel geschuftet und manch einen Ausflügler mit einem Zvieriplättli versorgt. Zur Festfreude mischt sich auch etwas Melancholie, weil der Alpsommer vorbei ist. Vielleicht sind die Ziegen darum bis zuoberst in die Berge geflohen. Auch jetzt, als sie mit den Sennen losziehen, trippeln sie in alle Richtungen anstatt ihnen zu folgen. Erst als das ganze Senntum unten auf der Kiesstrasse ankommt und sich dem Klöntalersee nähert, gehen die Tiere langsam geordnet hintereinander her. Rechtzeitig zum grossen Schaulaufen vor den vielen Zuschauerinnen und Zuschauern. Die haben von der ganzen Aufregung gar nichts mitbekommen, sondern freuen sich an den herausgeputzten Tieren und den Bauersleuten in den prächtigen Trachten. Und den fein säuberlich angemalten Schuhen
Diese Reportage entstand im Herbst 2016. Der Klöntaler Alpabzug 2017 findet am 30. September statt (Infos dazu in der Box Seite 17).